7. Geschichte
2024
Der Schicksalsstern
Magische Geschichte
Die Abenteuer von Querbur & Quirbana
Teil 1
Eine uralte Schildkröte erwacht nach 500 Jahren Schlaf, erzählt Querbur und Quirbana von der Prophezeiung des fallenden Sterns und fordert sie auf, ein Artefakt zu finden. Damit beginnt für die Beiden ein Wettlauf gegen die Zeit und gegen fehlende Hinweise, denn die Schildkröte schläft sofort wieder ein und versteinert. Gemeinsam versuchen sie, diese schwierige Aufgabe zu lösen und bekommen schon bald ungeahnte Unterstützung.
Der Schicksalsstern
Episode 1 von Karin
Am Fuße einer riesigen Buche hatte Querbur es sich bequem gemacht und hielt gerade ein kleines Nickerchen. In der Mittagssonne war es noch recht warm, aber die Tage wurden jetzt schnell kürzer und die Nächte zunehmend kälter. Die Laubbäume hatten die meisten Blätter bereits verloren.
Plötzlich tauchte Quirbana wie aus dem Nichts neben ihm auf und stieß ihn sanft mit der Schuhspitze an.
„Hey, Bruderherz, wach auf! Ich habe reichlich Pilze gesammelt. Jetzt ist es an dir, uns ein herzhaftes Essen zu zaubern. Ich kümmere mich derweil um eine frische Kanne Kräutertee.“
Querbur räkelte sich genüsslich, schenkte seiner kleinen Schwester ein warmes Lächeln und rappelte sich hoch.
„Prima. Ich mache mich gleich ans Werk. Ich soll dich übrigens von unseren Freunden aus dem Dorf grüßen. Als ich gerade am Einschlummern war, vibrierte plötzlich die Rufwurzel in meiner Manteltasche. Rofibald hat mir berichtet, dass alles bestens läuft und es keinen Grund zur Sorge gibt. Atana bekommt bald ein Geschwisterchen. Und Bauer Brix fährt jetzt sehr häufig ins Nachbardorf zu seiner Tochter. Er soll dort bei den Reparaturarbeiten die Bekanntschaft einer netten älteren Dame gemacht haben, die nur ein paar Häuser weiter wohnt. Das freut mich sehr für ihn. Er kam mir oft etwas einsam vor, wenn wir uns begegnet sind.“
„Wie schön. Und wenn es keine Probleme gibt, dann können wir uns auch weiterhin ungestört um unsere Aufgaben kümmern. Das erste Mal gemeinsam. So, wie es in Mamas Buch steht.“
Quirbana strahlte ihren Bruder über den Teekessel hinweg an, unter dem sie die aufgestapelten Holzscheite anzündete.
„Nein, liebe Schwester! Wir sind unserer Zeit voraus. Das erste Mal gemeinsam haben wir schon letztes Jahr im eingeschneiten Dorf eine Aufgabe gelöst. Ich bin noch immer sehr stolz auf dich.“
„Das stimmt“, sagte Quirbana mit versonnenem Blick in das Tal, das sich zu ihren Füßen unterhalb der Felskante erstreckte, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.
„Gleich nach dem Essen werde ich die nächste Seite im Buch aufschlagen und nach Hinweisen suchen, wie es weitergehen soll!“, rief sie ihrem Bruder hinterher, der gerade die unsichtbare Tür im Stamm der Buche öffnete, um von drinnen das Kochgeschirr zu holen.
„Ich denke, ich weiß es schon!“, antwortete Querbur, als er wieder heraustrat. „Schon vor langer Zeit habe ich Hinweise in meinem Buch gefunden. Wenn sie sich mit denen decken, die du auf der nächsten Seite deines Buches finden wirst, dann werden wir schon morgen die Zelte hier abbrechen und uns wieder auf den Weg machen.“
Nach dem Essen räumten die Geschwister gemeinsam alles zusammen, was sich außerhalb der Buche befand, löschten das Feuer und beseitigten all ihre Spuren, bevor sie im Baumstamm verschwanden. Im Inneren des Baumes hatten sie es sich schon bald gemütlich gemacht. Querbur war in einen komplizierten Zauberspruch seines Buches vertieft, mit dessen Hilfe sich in Nullkommanix aus Ästen und Zweigen ein schwimmtaugliches Floss zaubern ließe. Wer wusste schon, wann man diese Formel plötzlich dringend brauchen würde? Indessen sah Quirbana hochkonzentriert auf die aufgeschlagene Seite ihres Buches herab und folgte mit dem Zeigefinger einer verschlungenen Linie zwischen unterschiedlichen Symbolen, die nur sie deuten konnte. Plötzlich hielt sie inne, sah auf, und die wissenden Blicke der Geschwister trafen sich.
Episode 2 von Nicolle
„Unsere Mutter muss auch eine Seherin gewesen sein“, flüsterte Quirbana ergriffen.
Das magische Buch ihrer Mutter enthielt auch das Schicksal beider Geschwister und zeigte, dass ihre Leben untrennbar miteinander verbunden waren. Als Leitfaden für ihren Lebensweg war es voll mit geheimen Botschaften und Hinweisen, die ihr sagten, wie sie neue magische Kräfte erlernen konnte, wollte sie eines Tages auch eine Meistermagierin werden. Bis dahin war der Weg jedoch noch lang.
„Wenn ich die Linie richtig deute, müssen wir nach Westen. Und das Symbol, das aussieht wie eine Schildkröte, heißt das, wir müssen nach einem Artefakt suchen?“ Fragend schaute Quirbana ihren Bruder an, um sich zu vergewissern, ob sie richtig lag. Er nickte und holte sein eigenes Buch hervor, legte es neben ihres, und beide sahen die Symbole, die haargenau übereinstimmten.
„Ich hatte schon eine Ahnung“, sagte er. „Nur konnte ich es ohne Mamas Buch nicht exakt deuten. Jetzt wissen wir es. Also, mein kleines Schwesterchen, die Reise beginnt.“ Querburs Augen leuchteten vor Abenteuerlust auf. Auch Quirbana war nun gepackt von Neugier, Aufregung und Vorfreude.
Und so begannen beide, sich auf ihre neue Reise vorzubereiten.
Am nächsten Morgen war Querbur schon schnell bereit zum Aufbruch. Er steckte in einem grünen, wallenden Mantel, groben Wanderstiefeln, und seine Hand ruhte auf seinem kobaltblauen Zauberstab. Diesen hatte er in jungen Jahren von seinem Vater erhalten, und er hatte ihm schon viele gute Dienste geleistet. Er zurrte den Rucksack auf seinem Rücken noch einmal fest, während er nach Quirbana rief. Auch sie hatte ihren Rucksack geschultert. Sie trug ein dunkelbraunes Cape und ihre Füße steckten in schnallenverzierten, robusten Stiefelchen. Quirbanas kleine Hand umschloss ihren eigenen Zauberstab aus Schlangenholz mit einem rot schimmernden Rubinherz auf dem Knauf. Zum wiederholten Male tastete sie nach dem Schlüssel, der an einer goldenen Kordel um ihren Hals hing. Es war der Schlüssel zu ihrem magischen Buch, den sie gemeinsam mit dem Rubinherz nach der großen Prüfung von ihrem Bruder erhalten hatte.
Als beide bereit waren, machten sie sich auf den Weg. Am Anfang war der Fußmarsch noch ebenerdig und sie kamen leicht voran. Aber allmählich ging es immer steiler hinauf. Der Wald verdichtete sich mehr und mehr, bis sie schließlich an eine Baumgrenze gelangten, wo der Laubwald endete und der Nadelwald begann. Dieser war so dicht bewachsen, dass ein Durchdringen unmöglich schien. Sie setzten ihren Weg an der Baumgrenze entlang fort, bis er an einer Felskante endete und sie in eine unendlich tiefe Schlucht hinabblickten. Es war die Mergafinschlucht.
„Jetzt müssen wir vorsichtig sein“, sagte Querbur mit Ehrfurcht in der Stimme. Quirbana kroch auf Knien vor, um noch tiefer in den Schlund hinab blicken zu können, der sie fast hinabzuziehen schien. Erschrocken schrie Querbur: „Was machst du da? Fordere dein Schicksal nicht heraus! Auch wenn Mutter immer gesagt hat, wir werden unseren Weg gehen.“ Sie krabbelte wieder zurück und lächelte ihren Bruder schief an. „Sei nicht immer so ängstlich. Mir wird schon nichts passieren.“
Nun setzten sie ihren Weg an der Schlucht entlang fort. Auf der einen Seite erstreckte sich der dichte, dunkle Wald, auf der anderen ging es ins Bodenlose hinab. Mit Bedacht, auf jeden Schritt achtend, liefen sie ohne Halt und Pause immer weiter, bis die Sonne langsam hinter den Bergen verschwand.
„Jetzt lass uns rasten und unser Quartier hier aufschlagen“, rief Querbur seiner Schwester zu, als der Weg etwas breiter wurde. Der Wald hatte sich inzwischen gelichtet und war nicht mehr so undurchdringlich finster. Sie packten ihre Ausrüstung aus und zündeten ein kleines Feuer an, um darüber ihren Proviant zu erwärmen. Erschöpft ließen beide sich nieder. Sie füllten ihre Mägen, tranken heißen Tee und dösten ein wenig vor sich hin. Allmählich wurde es dunkler. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die Berge in flüssiges Gold. Fasziniert blickten beide auf, beobachteten das Farbspiel und Erinnerungen an die Mutter kamen auf. Wie oft hatten sie bei Sonnenuntergang zusammengesessen, und während die Sonne allmählich verschwand, hatte die Mutter ihnen viele Geschichten erzählt und Lebensweisheiten mit auf den Weg gegeben. Ein Satz hatte sich bei den Gnomengeschwistern tief in die Gedächtnisse eingebrannt: „Wenn ihr nicht mehr weiter wisst, folgt immer eurem Herzen und eurer Intuition. Sie führen euch auf den richtigen Weg.“
Querbur streichelte seiner Schwester sanft über den Kopf. Eine Träne rollte ihr über die Wange. Und während sie so dasaßen, die Dunkelheit sich wie ein Mantel um sie legte und das Licht des Feuers nur einen kleinen Umkreis erhellte, vernahmen beide ein leises Wispern.
Quirbana horchte neugierig auf. „Hast du das gehört?“ Querbur nickte.
Er packte seinen Zauberstab und lief dem Wispern entgegen. Quirbana hielt sich direkt hinter ihm. Plötzlich blieb er abrupt stehen und sie prallte gegen seinen Rücken. Vorsichtig lugte sie an ihm vorbei. Die Blicke beider waren auf einen großen Felsstein gerichtet, auf dem eine Schildkröte saß.
Sie gähnte lauthals und sprach: “Aaah, da seid ihr ja. Ich habe fünfhundert Jahre geschlafen. Das Aufwachen fällt mir etwas schwer. Gut, dass ihr mich gefunden habt, denn bald werde ich wieder einschlafen. Alle fünfhundert Jahre erfüllt sich eine große Prophezeiung. Ein Stern wird vom Himmel fallen. Ein Schicksalsstern. Und nun liegt es an euch, diesen aufzufangen. Gelingt euch das nicht, wird ein großes Unheil über die Dörfer ziehen. Und findet das Artefakt.“
Kaum hatte die kleine Schildkröte zu Ende gesprochen, schlief sie direkt wieder ein und wurde zu Stein. Fasziniert umrundete Querbur den Felsbrocken, auf dem die nun versteinerte Schildkröte saß.
„Quirbana! Wir brauchen jetzt die Magie der Kraft. Wir müssen den riesigen Stein zur Seite rollen.“ Quirbana riss entsetzt die Augen auf. Querbur lachte auf.
„Das geht ganz einfach. Stell dich neben mich und mach einfach das, was ich tue.“ Mit dem Zauberstab in der Hand hob er beide Arme. Quirbana tat es ihm nach. Ein kleines Wirbellicht funkelte auf. Nun schwang er seine Arme von einer Seite zur anderen. Synchron bewegte seine Schwester sich mit, woraufhin der riesige Stein langsam zur Seite rollte. In der Kuhle fanden sie das Artefakt. Quirbana war ein wenig enttäuscht. Sie hatte sich etwas viel Spektakuläreres vorgestellt. Aber ein Artefakt, das aussah wie ein handgroßer Stein, damit hatte sie nicht gerechnet. Als sie ihn aufhob, sah sie ein paar eingemeißelte Symbole.
Plötzlich rief Querbur: “Schau mal, da oben!“ Beide blickten hinauf und sahen einen Stern, der ganz langsam Richtung Erde sank.
„Wo wird der landen?“, fragte Quirbana staunend.
Querbur berechnete mit seinem Zauberstab die Laufbahn. „Im versteckten Dorf auf der anderen Seite der Mergafinschlucht. Dort müssen wir nun hin. Wir haben zum Glück noch reichlich Zeit, denn der Stern fällt sehr langsam. Denk daran, dass wir alles so unauffällig wie möglich machen müssen. Aber keine Sorge, ich habe dort ein paar Freunde, die uns bestimmt helfen werden.“
Nun war bei beiden die Abenteuerlust wieder geweckt. Sie mussten diesem Stern folgen und ihn am Ende auffangen, um das Unheil abzuwenden. Am nächsten Morgen, wenn sie sich etwas erholt hatten, würden sie ihren Weg fortsetzen. Beide kehrten zu ihrem Rastplatz zurück und legten sich zum Schlafen in die Nähe des Feuers.
Kurz bevor Quirbana die Augen zufielen, fragte sie noch: “Wer sind deine Freunde dort?“
Querbur gähnte und antwortete: “Hagen und Mina, die beiden Dorfältesten. Ich war zwar sehr lange nicht mehr dort, aber sie werden sich freuen, dich kennenzulernen.“ Kurz darauf schliefen beide endlich ein.
Episode 3 von Sabine
Am nächsten Morgen wurde Quirbana vom Kitzeln der Sonnenstrahlen auf ihrem kleinen Gesicht geweckt. Als sie die Augen aufschlug, war der Schlafplatz neben ihr leer. Ein verführerischer Duft nach frisch aufgebrühtem Kräutertee zog ihr in die Nase. Rasch erhob sie sich von ihrem kuscheligen Lager und rief ganz erschrocken: „Habe ich verschlafen, Querbur? Warum hast du mich nicht geweckt?“ Der drehte sich gelassen in ihre Richtung und antwortete besänftigend: „Du hast anscheinend den Schlaf gebraucht. Wir liegen gut in der Zeit. Mach dich in Ruhe frisch. Ich bereite weiter unser Frühstück zu.“ Rasch war die Morgentoilette erledigt und der Duft nach gebratenen Eiern mit Speck ließ Quirbana das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr knurrender Magen zeigte, wie hungrig sie war. Auf dem Moos breiteten sie eine Decke aus und ließen sich ihr Frühstück schmecken.
Nachdenklich blickte Quirbana beim Essen in die Ferne. „Woher kennst du eigentlich Hagen und Mina und das Dorf, in dem sie leben?“ Querbur räusperte sich, trank den letzten Schluck Tee aus seinem Becher und begann zu erzählen. „Hinter der Mergafinschlucht gibt es dieses kleine Dorf, das malerisch zu Füßen der Leogänger Berge liegt und von Wiesen und Wald umgeben ist. Die wenigen Bewohner leben vom Verkauf von abgelagertem Holz, einem Sägewerk und einer kleinen Tischlerei, in der sie handgefertigte Möbelstücke und Gebrauchsgegenstände herstellen. Sie verarbeiten alle Früchte und Kräuter des Waldes. Auf den Wiesen grasen Milchkühe und so können die Bauern Butter, Sahne, Quark und Käse herstellen. So haben alle ihr Auskommen. Als ich eine Aufgabe für meine Magierprüfung ablegen wollte, schickte mich unsere Mutter in diese Gegend. So lernte ich Hagen und Mina kennen.“
„Oh, eine Aufgabe wegen der Magierprüfung?“, rief Quirbana ganz aufgeregt. „Erzähl mir bitte mehr davon!“
„Ach Schwesterchen, sei nicht so neugierig. Du weißt doch, dass wir von diesen Prüfungen nichts erzählen dürfen! Sie sind ein Teil unserer Magie und jeder muss seine eigenen Aufgaben erfüllen.“ Quirbana machte ein enttäuschtes Gesicht. Nach kurzem Überlegen gab sie ihrem Bruder jedoch Recht. „Verzeih mir! Ach, wenn ich doch nicht immer so neugierig und ungeduldig wäre.“ Daraufhin nahm Querbur sie in den Arm.
„Hagen und Mina sind ganz liebe Menschen“, nahm Querbur den Faden ihres Gesprächs wieder auf. „Sie haben mir damals Quartier gewährt und mich davor bewahrt, eine stürmische Nacht ungeschützt im Freien verbringen zu müssen. Du wirst sie und ihr Dorf bald selbst kennenlernen. So, nun wird es aber Zeit unseren Weg fortzusetzen.“
Beide erhoben sich, und gemeinsam packten sie ihre Sachen zusammen. Als alles in ihren Rucksäcken verstaut war, schulterten sie diese. Sie schauten ein letztes Mal auf ihr Lager, ob sie auch nichts vergessen hatten.
Weiter ging der beschwerliche Weg rund um die Mergafinschlucht. Sie mussten auf jeden ihrer Schritte achten, da es rund um die Schlucht sehr felsig und steil war. Anfangs unterhielten sie sich noch miteinander, aber bald ging ihnen die Puste aus. Einige Male legten die Beiden eine Pause ein und stärkten sich mit heißem Tee und etwas Proviant. Endlich, am späten Nachmittag, traten sie auf eine Lichtung. Vor ihren Augen tat sich ein unglaublich schönes Panorama auf. Eine Auenlandschaft, durchzogen von einem Fluss. Im Hintergrund waren die Leogänger Berge zu sehen. Die Bergspitzen waren nur durch einen zarten Nebelschleier zu erahnen. Ein liebliches kleines Dorf, umgeben von Wald und Wiesen, lag zu Füßen der Berge. Schnurstracks schlugen sie den Weg zum Fluss ein und hatten diesen bald erreicht. „Ich brauche eine Pause“, stöhnte Quirbana und lies sich erschöpft auf einen Baumstumpf plumpsen. Sie rutschte ein Stück zur Seite und Querbur nahm neben ihr Platz.
“Und nun?“, fragte Quirbana verzagt, als sie sich einmal umgeblickt und die Landschaft ringsum angeschaut hatte. „Wie wollen wir über den Fluss kommen? Weit und breit ist keine Brücke zu sehen!“ Nachdenklich kratzte sich Querbur im Nacken. Da war doch was. Es wollte ihm nicht gleich einfallen. Doch plötzlich war ihm, als ob das letzte Puzzleteil an seinen Platz fiel. Er hatte doch erst kürzlich in seinem Zauberbuch die Formel studiert, wie sich aus Ästen und Zweigen ein schwimmtaugliches Floß zaubern ließe. Schnell zog er den Rucksack vom Rücken, kramte darin herum und holte das Zauberbuch hervor.
„Hast du eine Zauberformel, die uns über den Fluss bringt?“, fragte Quirbana sofort mit aufgeregter Stimme. Ihr Bruder blätterte währenddessen schon in seinem Buch und war schnell in eine Seite vertieft. „Ja, habe ich.“ Ihm war anzumerken, dass er jetzt nicht gestört werden wollte. Quirbana konnte sehen, wie er mit seinem kleinen Finger eine Zeile in dem Buch entlangfuhr. Leise brabbelte er etwas in seinen Bart. Wieder kramte Querbur nun in seinem Rucksack und nahm den kobaltblauen Zauberstab heraus. Er erhob sich vom Baumstumpf und trat samt Stab und Buch an das Flussufer.
Mit erhobenem Zauberstab rief er: „Elementum ego unda dico vos! Elementum recolligo huic commodo!“
Nun begann der Stab, in einem intensiven blauen Licht zu leuchten. Kleine Blitze zuckten aus der Stabspitze hervor und er schien sich in Querburs Hand zu drehen. Plötzlich hatte Quirbana das Gefühl, als ob der Baumstumpf, auf dem sie saß, zum Leben erwachte. Quiekend sprang sie auf und betastete hastig mit beiden Händen ihren Po. Es fühlte sich an, als ob sie etwas gebissen oder gestochen hätte. Als sie sich umdrehte, wollte sie ihren Augen kaum trauen. Sie hatte auf keinem Baumstumpf gesessen. Nein, das war ein Ameisenhaufen! Tausende und Abertausende Waldameisen liefen in alle Richtungen und trugen eilig Unmengen kleiner Zweige, Äste und Blätter zusammen. Zufrieden schaute Querbur dem emsigen Treiben zu. Schon bald verwoben die Tierchen das herbei getragene Material zu einem kleinen Floß. Als sie ihr Werk vollendet hatten, krabbelten sie zurück in ihren Hügel. Quirbana hätte schwören können, dass es nun wieder ein Baumstumpf war.
Jetzt stand ihrer Überfahrt nichts mehr im Weg. Zum Glück hatte es längere Zeit nicht geregnet, sodass der Fluss nicht allzu breit war. Als sie das Floß zu Wasser gelassen hatten, stiegen sie vorsichtig auf und stießen sich vom Ufer ab. Sofort trieb der Wind sie in die richtige Richtung. Mit kleinen Stöcken, die sie als Ruder benutzten, war es ein problemloses Übersetzen. Trockenen Fußes sprangen sie an der gegenüberliegenden Uferseite an Land. Mit einem kleinen Seil, welches Quirbana aus ihrem Rucksack zog, sicherten sie ihr Floß an einem Baum. Vielleicht würden sie es noch einmal brauchen.
„Nun haben wir es bald geschafft!“, rief Quirbana voller Erleichterung. „Bis zum Dorf scheint es nicht mehr allzu weit zu sein.“
Gemeinsam machten sie sich auf das letzte Stück ihres Weges. Als sie endlich das Dorf erreichten, begann es bereits dunkel zu werden. Noch einmal blieben beide stehen und sahen gen Himmel. Der fallende Stern war nun bereits ein ganzes Stück tiefer am Himmel zu sehen und schien deutlich näher als am Abend zuvor. Sie setzten ihren Weg fort und standen kurz darauf vor dem von Laternen beleuchteten Haus von Hagen und Mina. Querbur trat an die Tür und klopfte. Es dauerte nicht lange und diese wurde von Hagen geöffnet. Überraschung machte sich auf seinem Gesicht breit, als er Querbur und eine junge Frau mit leuchtend roten Locken vor sich stehen sah. Schnell bat er beide herein und begrüßte sie drinnen mit einer herzlichen Umarmung. Mina war durch Stimmen an der Haustür aufmerksam geworden und tauchte hinter Hagen auf. Auch sie begrüßte die Gäste herzlich und ihre Augen füllten sich mit Freudentränen. Nachdem Querbur seine kleine Schwester vorgestellt hatte, wurden sie in die behagliche Wohnstube gebeten und nahmen auf dem bequemen Sofa in der Nähe des wärmenden Kamins Platz. Während Hagen mit ihren Gästen plauderte, eilte Mina in die Küche und bereitete Früchtetee und eine kleine Mahlzeit zu. Gemeinsam saßen die Vier kurz darauf um den Tisch und ließen es sich schmecken.
„Wie geht es euch?“, wollte Querbur wissen.
„Ich glaube, dich schickt der Himmel“, ergriff Hagen das Wort. Querbur und Quirbana blickten sich wissend an. „Wie du weißt, leben wir am Berg und kennen ihn genau. Der Berg ruft, sagt man. Und das stimmt im wahrsten Sinne des Wortes, denn Berge machen Geräusche. Durch schmelzende Gletscher, fallende Steine und durch stürmische Winde hört man sie immer wieder. Aber was wir jetzt erleben, macht uns unruhig und bereitet uns zeitweise Angst“, berichtete Hagen weiter. „Ein paar Frauen, die im Wald Pilze sammelten, erzählen, dass sie ein Brummen und Schlagen hörten, welches sie nicht zuordnen konnten. Wieder andere sprechen von krachenden und splitternden Geräuschen.“
„Irgend etwas stimmt da nicht!“, fiel Mina ihm ins Wort.
Episode 4 von Gabriela
Querbur runzelte die Stirn und überlegte angestrengt, ob und was diese Geräusche eventuell mit dem herabfallenden Stern zu tun haben könnten. Eine plausible Idee wollte ihm dazu leider nicht kommen.
Quirbana hatte ebenfalls interessiert den Erzählungen von Hagen gelauscht und schmiedete in ihrem roten Lockenkopf bereits Pläne für den nächsten Tag. Sie sprudelten auch direkt aus ihr heraus: „Wo hört man diese Geräusche am meisten? Nur im Wald oder auch hier in den Häusern? Die Frauen, die im Wald waren, wo finden wir die? Ich würde mich gerne mit ihnen unterhalten und mich an den beschriebenen Orten umsehen.“
Mina und Hagen versuchten all ihre Fragen, so gut es ging, zu beantworten. Mittlerweile war es spät, und ihnen allen stand die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. Noch einmal umarmten sie sich und wünschten einander eine gute Nacht. Mina hatte die Schlafgelegenheiten für die Geschwister bereits gerichtet. Mit einer Kerze leuchtete sie ihnen den Weg. Als alle Lichter im Haus erloschen waren, lag Quirbana trotz ihrer Müdigkeit noch eine Weile wach. Ihre Gedanken tanzten durch ihr Köpfchen und wollten keine Ruhe geben, bis sie schließlich doch darüber einschlief. Mitten in der Nacht wurde sie jedoch von irgend etwas aus dem Schlaf gerissen. Im ersten Moment wusste sie gar nicht, wo sie war. Es dauerte einen Moment, bis sie sich zurechtfand. Sie stand auf, ging hinüber zu Querburs Schlafplatz und rüttelte ihn leicht an der Schulter. Erschrocken riss er die Augen auf.
„Wawa…was ist los?“, stotterte er vor sich hin, während er sich gleichzeitig aufsetzte und versuchte, die Situation zu erfassen. Quirbana wollte niemanden sonst im Haus wecken und flüsterte deshalb eindringlich: „Hör doch! Die Geräusche, von denen die Leute hier erzählen!“
Und schon im nächsten Moment ließ ein mächtiges Krachen auch Querbur aufhorchen. Es klang, als würde sich etwas auseinander dehnen und aufbrechen. Quirbana griff nach Querburs Hand und zog ihn hoch. Mit dem Zeigefinger vor dem Mund wisperte sie: „Pst, wir wollen niemanden wecken!“ Sie zog ihren Bruder hinter sich her zur Haustür und blieb erst draußen vor der Tür mit ihm stehen. Im Licht des zunehmenden Mondes konnten sie zumindest Umrisse der Umgebung sehen. Es war aber wieder still geworden. Nichts war mehr zu hören. Quirbana hatte das Gefühl, den Atem anhalten zu müssen, damit ihr kein Geräusch entging. Und da, da war es wieder! Dieses Mal aber nur ein leichtes Knarren. Am liebsten wäre Quirbana sofort dem Geräusch gefolgt, um zu sehen, woher es genau kam. Es war aber trotz des Mondlichts viel zu dunkel, um auf Erkundung zu gehen. Sie schauten sich beide an und waren sich auch ohne Worte einig, dass sie diesen mysteriösen Geräuschen am nächsten Tag nachgehen würden. Noch bevor sie zurück ins Haus gehen konnten, traten Hagen und Mina zu ihnen, die ebenfalls aufgewacht waren.
„Wir sind ganz erschrocken! So heftig und laut war es bisher nie hier zu hören!“, prustete es aus Mina heraus.
Zusammen standen sie noch eine Weile ratlos vor dem Haus und rätselten, ehe sie sich alle wieder schlafen legten. Am Morgen wollten sie direkt nach dem Frühstück aufbrechen, um den ungewöhnlichen Vorfällen nachzugehen.
Quirbana, die schon ganz unruhig draußen vorm Haus auf einer kleinen Bank saß und auf Querbur und Hagen wartete, die für Mina eben noch etwas Holz ins Haus trugen, hielt sich die Hand schützend über ihre Augen, weil die Sonne sie blendete.
Gerade, als die beiden Männer aus der Haustür traten, um sich zusammen mit Quirbana auf den Weg zu machen, liefen zwei fröhlich hüpfende Mädchen am Haus vorbei. Hagen, der die Beiden kannte, sprach sie an und fragte sie, wohin sie unterwegs seien. Daraufhin blieben die Mädchen stehen. Eines antwortete: „Wir wollen zu unseren Müttern. Die sind heute schon sehr früh in den Wald aufgebrochen.“ Hagen kannte die Familien. Die beiden Frauen, um die es ging, waren die, die im Wald das Brummen und Schlagen gehört hatten. Er schaute kurz zu Querbur und Quirbana und richtete sich dann wieder an die Mädchen: „Das trifft sich gut. Wir wollten gerade ins Dorf, um die Beiden aufzusuchen. Wenn es euch recht ist, dann würden wir euch gerne begleiten.“ Die Mädchen schauten sich kurz an und nickten Hagen schließlich zu. So marschierten die Fünf gemeinsam durch den Wald. Quirbana kam es wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich zwischen den Bäumen die beiden Frauen entdeckte. Die Mädchen liefen das letzte Stück schnell voran, um ihre Mütter zu begrüßen. Alva und Svea, die sich sichtlich freuten, ihre Töchter zu sehen, entdeckten kurz darauf deren Wegbegleiter und schauten ihnen erwartungsvoll entgegen.
Als diese bei ihnen ankamen, begrüßte Hagen beide mit Namen und einer kurzen Umarmung. Er stellte ihnen Querbur und Quirbana vor, denen die Frauen daraufhin die Hände entgegenhielten und sie ebenfalls freundlich begrüßten. Gleich darauf kam Hagen auf ihr Anliegen zu sprechen. Er fragte, woher genau die Geräusche gekommen waren, die die Frauen gehört hatten.
Alva ergriff schnell das Wort und wies auf eine etwas entfernt liegende Waldlichtung, hinter der eine Felsformation auszumachen war. „Ihr müsst etwa zehn Minuten diesem Weg hier folgen. Bei der Lichtung sammelten wir gerade die letzten Pilze in unsere Körbe, als wir diese unheimlichen Geräusche hörten. Sie kamen aus Richtung der Felsen, die dahinter zu sehen sind. Genaueres können wir euch leider nicht berichten, da wir uns danach direkt auf den Weg ins Dorf gemacht haben. Uns war das alles nicht geheuer. Wir haben es zwar unseren Männern erzählt, und die sind am Tag drauf auch gleich dort gewesen, um nachzusehen, aber sie konnten nichts hören und auch keine Ursache finden.“
Hagen bedankte sich bei den Beiden und beratschlagte sich kurz mit Querbur und Quirbana. Die Frauen nahmen indes ihre Arbeit wieder auf und luden nun gemeinsam mit ihren Töchtern die zusammengesammelten Eicheln und Tannenzapfen in ihre Körbe.
Wenig später machten die Drei sich auf den gewiesenen Weg und kamen schon bald zu der Lichtung, auf der sie erneut Halt machten. Die Felsen lagen nun direkt vor ihnen. Bei einer heißen Tasse Tee betrachteten sie in Ruhe jedes Detail ihrer Umgebung, entdeckten aber nichts Auffälliges. Sie schulterten ihre Rucksäcke wieder und liefen weiter, vorbei an den Felsen auf eine kleinere Bergkette zu. Ihre Augen versuchten alles zu erfassen, was es zu sehen gab. Erst kam ihnen nichts ungewöhnlich oder seltsam vor, doch schließlich entdeckte Querbur einen kleinen Felsvorsprung, und bei genauerer Begutachtung erregte, versteckt hinter ein paar Büschen, eine kleine Aushöhlung seine Aufmerksamkeit. Er rief Hagen und Quirbana zu sich. Gemeinsam liefen sie auf die Stelle zu und stellten fest, dass es sich nicht nur um eine Aushöhlung handelte. Es schien ein Höhleneingang zu sein, der den Blick ein wenig ins Felsinnere freigab. Da sie damit gerechnet hatten, dass sie eventuell irgendwo in dunklen Ecken oder Aushöhlungen suchen mussten, hatten sie Fackeln dabei, die sie nun entzündeten.
Das Betreten der Höhle war nicht ganz einfach. Es gab nur einen sehr schmalen, etwas verwinkelten Durchgang. Querbur musste seinen vom guten Frühstück noch gefüllten Bauch etwas einziehen, um nicht stecken zu bleiben. Hagen war bereits vorgegangen und hatte erkundet, ob sie gefahrlos weiter in die Höhle vordringen konnten.
Nach dem schmalen Durchgang wurde der Weg innen etwas breiter und zugänglicher. Sie leuchteten vor jedem neuen Schritt die Wände ab, um zu sehen, ob irgendwo Gefahr lauerte. So gingen sie ein ganzes Stück in den Berg hinein, bis sie wieder an eine schmalere Stelle kamen, die aber nicht ganz so eng war wie der Eingangsspalt. Als sie auch diese passiert hatten, tat sich vor ihnen eine gewölbeartige Höhlenfläche auf. Hier sprudelte sogar eine kleine Wasserquelle vor sich hin. Sie löschten zwei der drei Fackeln, denn von oben in der Felsenwand fiel etwas Tageslicht in die Höhle. Staunend und neugierig wanderten ihre Blicke auf der Suche nach neuen Entdeckungen umher. Quirbana wurde auf drei nebeneinanderstehende große Felsbrocken aufmerksam und ging zu ihnen hinüber. Kurz nachdem sie hinter den Felsen verschwunden war, rief sie die beiden Männer ganz aufgeregt zu sich. „Querbur, Hagen, kommt schnell.“
Die Zwei eilten zu ihr. „Seht euch das an! Hier scheint die Felsenwand aufgesprungen zu sein! Und seht nur, dort an der Wand! Was hat das zu bedeuten?“ Quirbana hatte ein paar Zeichen an der Wand entdeckt, die ihr bekannt vorkamen. Hagen stand ungläubig davor.
„Wer sollte bis hierher vorgedrungen sein, um etwas in die Wand zu ritzen? Und wozu sollte das gut sein?“, machte er seinen Gedanken freien Lauf. Als Querburs Blick ebenfalls auf die Zeichen fiel, wusste er genau, dass diese für sie ein Wegweiser waren. Wie alles zusammenhing, musste er aber noch herausfinden. Er nahm seinen Rucksack ab, öffnete ihn und holte den Stein heraus, den sie mit Hilfe der Schildkröte gefunden hatten. Nun hielt er ihn neben die Zeichnungen an der Felsenwand. Die Symbole auf Stein und Wand waren identisch. Er blickte zu Quirbana, der ebenfalls sofort klar war, dass sie der Erfüllung ihrer Aufgabe wieder ein Stück näher gekommen waren. Nur wussten sie beide noch nicht, was das genau bedeutete.
Nun betrachteten sie den langen und tiefen Riss in der Felsenwand. Wieder war es Quirbana, die aufgeregt rief: „Querbur, hier! Hier sind auch Zeichnungen an der Wand. Komm bitte mit der Fackel, damit man mehr erkennen kann!“
Querbur leuchtete ihr und Quirbana hielt nachdenklich die Hand vor den Mund. „Sieh nur! Die Abbildungen sehen aus wie eine Bildgeschichte! Ein Stern. Ein Lichtstrahl in eine Bergöffnung hinein. Zwei Figuren, die etwas aus einem Bach holen? Und was ist das? Könnte dieses Bild bedeuten, dass ein Stern nicht aufgefangen wird, sondern nur umgeleitet?“ Sie schaute Querbur verwirrt an. Er meinte, ihre Gedanken lesen zu können. Ihre nicht ausgesprochene Frage lautete: „Haben wir unsere Aufgabe falsch verstanden?“
Episode 5 von Jörg
„Was haben diese Zeichen zu bedeuten? Und was ist das für ein Stein?“, fragte Hagen, der ein paar Schritte hinter den Beiden stehen geblieben war und wortlos zugesehen hatte, wie diese die Zeichnungen an den Wänden begutachtet hatten. Quirbana und Querbur sahen eine fragend hochgezogene Augenbraue in seinem Gesicht, als sie sich umdrehten. Für einen kurzen Moment hatten sie vergessen, dass sie nicht allein in der Höhle waren.
„Das fragen wir uns auch gerade“, antwortete Querbur und warf Quirbana einen kurzen Blick zu. Sie verstand sofort, dass ihr Bruder eben die Entscheidung getroffen hatte, Hagen ein wenig mehr von dem zu erzählen, weswegen sie in das Dorf gekommen waren.
Hagen war ihnen schon jetzt eine große Hilfe, und Querbur wusste von ihrer ersten Begegnung, dass er zuverlässig und hilfsbereit war. Jetzt konnten und mussten sie sich gegenseitig unterstützen, waren Querburs Gedanken.
„Wir haben einen Stern gesehen, der bald auf die Erde herabfallen wird“, fuhr Querbur fort. „So, wie ich seine Flugbahn berechnet habe, wird er hier ganz in der Nähe auf die Erde treffen. Eine Prophezeiung besagt, dass wir ihn auffangen müssen, damit kein Unheil über die Dörfer hereinbricht. Und dann haben wir noch diesen Stein. Ein Artefakt, auf dem die gleichen Zeichen wie auf der Höhlenwand sind. Der Stern soll ein Schicksalsstern sein. Mehr, lieber Hagen, wissen wir auch noch nicht, aber wir werden es herausfinden!“
Hagen schien zum Erstaunen von Quirbana und Querbur nicht sonderlich überrascht über das, was Querbur soeben erzählt hatte. Ganz im Gegenteil, sie hatten den Eindruck, im Flackern der Fackel ein Grinsen in seinem Gesicht zu sehen, als er leise: „Ja, das werden wir“ murmelte. Nun schauten die Beiden ihn fragend und verwundert an, und noch bevor sie etwas sagen konnten, fuhr Hagen fort: „Ich weiß von der Prophezeiung. Sie ist ein gut gehütetes und über Jahrhunderte und Generationen weiter gegebenes Geheimnis in unseren magischen Kreisen.“
„In unseren magischen Kreisen, sagst du?“, fragte Querbur überrascht. „Heißt das, du bist…“
„Ja, ich bin auch ein Magier“, entgegnete Hagen, noch bevor Querbur seinen Satz beenden konnte.
„Unsere Familie gibt das Geheimnis seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weiter, doch leider gingen vor etwa einhundertfünfzig Jahren wichtige Aufzeichnungen bei einem großen Brand verloren, der in unserem ganzen Dorf gewütet hat. Darin standen die Formeln und die genauen Anweisungen, wie der Schicksalsstern aufzufangen sei. Von Mund zu Mund überliefert wurde aber immer nur ein Teil, denn um sicher zu gehen, dass die Formeln dereinst auch tatsächlich ganz genau befolgt werden würden, waren diese Informationen niedergeschrieben.“
Quirbana und Querbur sahen erst sich und dann Hagen an. „Aber wie sollen wir den Stern jetzt auffangen?“, fragte Quirbana, und ihre großen Kulleraugen guckten sehr besorgt.
„Genau weiß ich das auch noch nicht“, entgegnete Hagen. „Aber vor Jahren schickte eure Mutter dich nicht zufällig in unsere Gegend“, fuhr er fort und grinste in Querburs Richtung.
„Eine zweite Niederschrift besagter Informationen wurde an einem nicht genau bekannten Ort versteckt, für den Fall, dass man sie jemals brauchen würde. Wo das ist, das müssen wir gemeinsam herausfinden. Es gibt in unserem Magierkreis nur ein paar überlieferte Hinweise“.
Querburs Augen leuchteten, denn so vieles, was damals bei seiner Magierprüfung passiert war, ergab jetzt plötzlich einen Sinn. „Deswegen also hat unsere Mutter mich in diese Gegend geschickt.“
Er blickte zu seiner Schwester. „Und deswegen hat unsere Mutter uns immer gesagt, wir sollen unseren Herzen und unserer Intuition folgen. Das hat mich damals und nun uns beide heute wieder an diesen Ort geführt.“
Hagen nickte. „Ja, eure Mutter gehörte zu den Trollmagiern, die diese Informationen in eurem Kreis weitergegeben haben. Und wir vier, denn auch Mina gehört zu unserem magischen Kreis, haben jetzt die Aufgabe, das Rätsel zu lösen und die noch fehlenden Informationen zu finden und zu entschlüsseln, um den Schicksalsstern aufzufangen.“
Quirbana und Querbur waren von alldem sehr überrascht. Sie hatten weder damit gerechnet, dass ihre Freunde in diesem Dorf auch Magier waren, noch hatten sie ihre persönliche Hilfe bei dieser Aufgabe erwartet. Nun machte sich bei den Geschwistern langsam ein beruhigendes Gefühl darüber breit, dass sie bei der Lösung des Rätsels nicht länger auf sich allein gestellt waren. Gemeinsam mit Hagen und Mina würde es ihnen gelingen.
„Lasst uns ins Dorf zurückgehen. Mina wird schon warten. Sie war schon heute Morgen sehr gespannt auf eure Reaktion, wenn ihr die Neuigkeiten erfahren würdet.“
Schnell wollten die Drei noch ein paar Skizzen von den Zeichnungen in der Höhle anfertigen. Dazu holte Querbur einige Pergamentblätter aus seinem Rucksack, die er gemeinsam mit Hagen auf die Zeichnungen hielt. „Effingo tabulam muro super chartam!“, sprach Quirbana den einfachen, aber wirkungsvollen Zauberspruch aus.
Wie aus dem Nichts erschien ein genaues Abbild der Wandmalereien auf dem Pergament. Querbur und Hagen überprüften nochmals alle Details, bevor sie die Pergamente vorsichtig zusammenrollten und wieder in Querburs Rucksack verstauten.
„Auf geht’s!“, sagte Hagen schließlich, nachdem sie Ihre Rucksäcke wieder aufgesetzt hatten und bereit zum Gehen waren.
Nacheinander verließen sie durch den verwinkelten Durchgang die Höhle und bemerkten erstaunt, wie tief die Sonne schon stand, als sie wieder vor dem kleinen Felsvorsprung ankamen. Um noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück im Dorf zu sein, setzten sie ihren Weg ohne Rast fort. Hagen lief voran, da er sich hier am besten auskannte. Quirbana folgte ihm und Querbur bildete das Schlusslicht des Trios.
Es dämmerte bereits, als die Drei auf ihrem Rückweg aus dem Wald kamen und nur noch die Lichtung überqueren mussten, um nach Hause zu kommen. Kurz blieben sie stehen und ließen ihre Blicke zum Himmel schweifen. Der fallende Stern war schon jetzt zu sehen, denn er leuchtete heller als alle anderen Sterne. Inzwischen schien er wieder weiter herab gesunken zu sein als tags zuvor. „Er kommt immer näher“, meinte Hagen nach einem kurzen Moment. „Wir haben noch viel zu tun, bevor er ankommen wird.“
Gerade, als Quirbana, Querbur und Hagen sich wieder in Bewegung setzten, ertönte das Schlagen und Brummen erneut. Es war nicht sehr laut. Dennoch kam es ihnen unheimlich vor, da nicht auszumachen war, wo es so plötzlich herkam und es dennoch die ganze Umgebung zu erfüllen schien.
„Da ist es wieder!“, rief Quirbana und drückte sich etwas ängstlich an ihren Bruder. Sie fragte sich besorgt, ob sie es rechtzeitig schaffen würden, die Niederschriften zum Auffangen des Sterns zu finden und gleichzeitig das Rätsel dieser Geräusche zu lösen.
Im Dorf angekommen erwartete Mina sie schon vorm Haus. Sie war nach draußen gegangen, als die Geräusche plötzlich wieder begonnen hatten und hatte die Drei kommen sehen. Sie begrüßten sich herzlich und waren allesamt froh über ihre Rückkehr.
Im Haus hatte Mina schon eine Stärkung vorbereitet und brühte schnell noch eine Kanne Tee auf. Es war bereits empfindlich kühl geworden, als die Sonne sich langsam hinter die Berge verzogen hatte. Jetzt merkten Quirbana, Querbur und Hagen erst, wie hungrig sie inzwischen waren und gemeinsam mit Mina ließen sie es sich schmecken. Noch lange saßen sie danach zu viert um den Tisch, tauschten zuerst alle Neuigkeiten aus und überlegten schließlich, wie sie den Geheimnissen auf die Spur kommen könnten. Viele Ideen wurden beratschlagt und wieder verworfen. Schließlich war es schon fast Mitternacht.
Als sie sich eigentlich schon schlafen legen wollten, hatte Mina plötzlich noch eine Eingebung, die sie den Anderen sofort mitteilen wollte. Diese schauten sie mit großen Augen an. Sollte es wirklich so einfach sein? Sollten sie die Lösung schon die ganze Zeit gekannt, nur eben nicht erkannt haben?
Nun mussten sie alle dringend erst einmal schlafen, um am nächsten Morgen mit klarem Blick und wachem Verstand nochmals darüber nachdenken zu können. Sie wünschten sich gegenseitig eine Gute Nacht, nicht wissend, dass des Rätsels Lösung bereits den ganzen Abend mit an ihrem Tisch war.
Gemeinsame Abschluss-Episode
Quirbana hielten die vielen Eindrücke des Tages trotz ihrer Müdigkeit noch eine ganze Zeit wach. Irgendwann fiel sie schließlich in einen unruhigen Schlaf, in dem sie von Artefakten, Höhlen und Zeichnungen träumte. Als es draußen gerade anfing zu dämmern, wachte sie plötzlich mit der Prophezeiung des vom Himmel fallenden Sterns im Kopf auf. Im Nu war sie hellwach. Querbur hörte sie leise schnarchen. Sie beschloss aufzustehen, setzte sich auf und tastete nach ihren Sachen. Sie würde, während sie weiter nachdachte, schon einmal das Frühstück für sie alle in Minas Küche vorbereiten. Leise schlich sie im fahlen Morgenlicht aus dem Zimmer, machte sich im Badezimmer frisch und ging in die heimelige Küche. Schnell hatte Quirbana im Ofen mit ein paar Holzspänen die Glut wieder entfacht und das Feuer loderte auf. Sie füllte den Wasserkessel und stellte ihn zum Kochen auf die Herdplatte. Die Teekanne stand vom Vorabend noch auf dem Esstisch. Als sie sie anhob, kam der Wärmestein darunter zum Vorschein. Quirbana setzte die Kanne daneben ab, betrachtete den Stein neugierig und griff schließlich danach. Als sie ihn anhob, entglitt er ihren kleinen Händen. Er polterte auf den Tisch zurück und drehte sich vor ihren Augen wie ein Kreisel. Mit großen Augen sah sie, wie kleine goldene Sterne ihn dabei umschwirrten. Schließlich blieb er auf seiner Oberseite liegen. Ungläubig betrachtete sie nun die eingemeißelte Zeichnung auf der Unterseite. Diese erkannte sie sofort wieder, da sie sie erst tags zuvor in der Höhle gesehen hatte. „Das darf doch nicht wahr sein!“, raunte sie vor sich hin.
Mina war durch die Geräusche erwacht und betrat nun die Küche.
„Du bist ja schon wach! Guten Morgen!“, begrüßte sie Quirbana und trat zu ihr. Als auch ihr Blick auf den verkehrt herum liegenden Stein fiel, fragte sie ungläubig: „Ist es das, was ich denke? Ist es unser Zeichen? Der Stein liegt auf dem Tisch, seit ich denken kann. Bestimmt schon seit Generationen, seit dieser Tisch hier steht. Er wurde mit dem Haus immer weiter vererbt. Uns ist es nie in den Sinn gekommen, den Stein vom Tisch zu nehmen und zu wenden.“
„Ich bin ziemlich sicher, dass das hier eines der Symbole ist, die wir gestern in der Höhle gesehen haben“, antwortete Quirbana. „Ich werde Querbur wecken und ihn bitten, die Pergamentblätter gleich noch einmal auszurollen, damit wir alle gemeinsam vergleichen können.“
Als die Vier wenig später am Tisch saßen, breitete Querbur die Pergamentblätter aus und strich sie mit den Händen glatt. Alle Blicke schwirrten zwischen Stein und Blättern hin und her. Schnell hatten sie Gewissheit, dass auch das Symbol auf dem Stein ein Teil der Lösung ihrer nun gemeinsamen Aufgabe sein musste.
Für einen Moment war es still im Raum. Sie schauten wie gebannt auf den Stein. Dann wandte Querbur seinen Blick zu Mina und brach das Schweigen.
„Deine Erinnerung gestern, bevor wir schlafen gingen, könnte wirklich mit unserer Aufgabe zu tun haben. Du sagtest, dass dein Vater dir in deiner Kindheit irgendwann in seiner Werkstatt ein angebliches Spiel zeigte, das er damals selbst entwarf. Was könnte es mit den Spielregeln auf sich haben, die du dir unbedingt einprägen und nicht vergessen solltest?“
Mina überlegte kurz und zählte dann die Einzelheiten auf, an die sie sich erinnern konnte. „Vater sagte, dass es ein Spiel für vier Personen würde. Es gäbe vier verschiedene Utensilien mit unterschiedlichen Zeichen, die gefunden werden müssten. Zwei dieser Utensilien seien Steine und die anderen zwei Kristalle, die in der Nähe eines Flusslaufes zu finden wären. Die Steine und die Kristalle sollten zusammengehören und müssten gleichzeitig an vorgegebenen Stellen eingefügt werden, um gemeinsam ein finales Rätsel lösen zu können.“
Traurig schaute sie nun in die Runde und nach einem tiefen Seufzer fuhr sie fort: „Das ist schon so lange her und Vater war damals bereits sehr krank. Das ist wohl auch der Grund, warum das Spiel niemals fertig wurde und ich keine weiteren Regeln kenne.“
Quirbana drückte Minas Hand. „Gestern haben wir noch gerätselt, was es mit dem zweiten Stein auf sich hat und wo wir ihn finden können“, sagte sie. „Nun liegt er vor uns. Uns fehlen also noch die Kristalle. Ich denke, wir müssen zurück in die Höhle. Aber dieses Mal wir alle zusammen. Was meint ihr?“
Alle vier waren sich einig, dass sie gemeinsam hinauf zur Höhle mussten.
Sie wussten, dass es ein langer Tag werden würde, für den sie eine ordentliche Stärkung brauchten. Mina hatte alles da, was das Dorf hergab. Es gab selbstgebackenes Brot, allerlei Früchte, verschiedene Käsesorten, Eier von glücklichen Hühnern, Quark, Nüsse und Obst.
Beim Frühstück bereiteten sie gleichzeitig Proviant für unterwegs zu und füllten Tee in Thermoskannen. Als sie satt waren, packten sie alles in ihre Rucksäcke. Querbur vergewisserte sich noch einmal, dass er die Pergamentrollen und die magischen Bücher dabei hatte. Gestiefelt, passend zum Wetter und für die lange Wanderung angezogen, brachen sie schließlich am frühen Vormittag auf.
Draußen herrschte bereits reges Treiben. Sie grüßten einen Bauern, der seinen Karren zog. Vom Weiten winkte der Hirte, der mit seinen Schafen auf dem Weg zur Wiese war. Und Alva und Svea, die Querbur und Quirbana bereits am Vortag kennengelernt hatten, waren gerade dabei, die letzten Kartoffeln vom Feld seitlich des Weges zu lesen. Hier und da wurden die Vier von Bewohnern gegrüßt und grüßten freundlich zurück, bis sie aus dem Dorf heraus waren.
Nun zog sich ihr Weg die lange Anhöhe hinauf. Die Sonne erhellte golden das Tal. Quirbana blieb mehrmals stehen, schirmte ihre Augen ab und schaute fasziniert hinunter ins Dorf. Sie erblickte ein paar helle Tupfer. Es waren die Schafe auf der großen Wiese am Dorfrand.
Alle hingen sie ihren eigenen Gedanken nach, und die meiste Zeit ihrer Wanderung schwiegen sie. Der Wind rauschte leise, Äste knackten unter ihren Füßen und Vögel zwitscherten. Plötzliches dumpfes Wummern, das Beben des Bodens und ein tiefes Brummen sorgten für einen Schreckmoment unter den Vieren. Dann hörten sie, wie Geröll und Steine vom Hang vor ihnen herab prasselten. Doch nichts davon war ihnen völlig neu, sodass sie schon Sekunden später beherzt ihren Weg fortsetzten.
„Hierher!“, rief Querbur schließlich laut von etwas weiter vorn. Er war das letzte Stück zügig vorangegangen, um den versteckten Zugang zur Höhle wiederzufinden. Gerade, als sie hintereinander durch den Spalt schlüpften, rumpelte und dröhnte es erneut für einen kurzen Moment.
„Ich bin mir sicher, dass das Rumpeln mit dem Stern zu tun hat“, sagte Quirbana. „Je näher er kommt, um so lauter wird es.“ „Da könntest du recht haben“, bestätigte Hagen ihre Vermutung.
Vorsichtig gingen sie die ersten Schritte in die Höhle hinein, zündeten ihre Fackeln an und liefen dann den verwinkelten Weg bis zum gewölbten Höhlenraum, den sie bis auf Mina schon vom Vortag kannten. Groß und erhaben dehnte sich der Hohlraum schließlich vor ihnen aus. Staunend schauten sie sich um.
„Seht mal!“, rief Quirbana. Die Quelle, die sie tags zuvor entdeckt hatte, sprudelte deutlich stärker. Ein kleines Bächlein hatte sich gebildet und floss hinab zum Felsspalt.
„Der Spalt ist größer geworden“, stellte Hagen fest.
„Wir müssen dahin!“, rief daraufhin Quirbana und eilte aufgeregt voran. Sie watete durch das Rinnsal und war schon im nächsten Moment im Spalt verschwunden.
„Warte!“, mahnte Querbur aufgeregt. Er schüttelte den Kopf über seine kleine, quirlige Schwester. Sobald sie die Neugier gepackt hatte, war sie nicht mehr zu bremsen. Doch hier war es nicht ungefährlich.
„Du könntest dich verletzen“, rief auch Mina nervös. Nun rannten die Drei Quirbana hinterher. Der Spalt hatte sich sehr stark vergrößert, so dass alle hindurch passten. Mina schaute sich trotz aller Eile noch einmal um und betrachtete erstaunt die Höhlenzeichnungen.
„Ich weiß, wo wir hin müssen!“, hörten sie Quirbana etwas entfernt und eilten dem Ruf entgegen.
Quirbana konnte es fühlen. Von einem starken Drang erfüllt, hatten Neugier und eine Ahnung sie voran getrieben. Das Bächlein, das am Rande lief, wurde zusehends breiter. Hier musste sie bereits aufpassen, dass sie sich nicht an hervorstehenden Felskanten stieß. Hinter der nächsten Biegung war aus dem Bach bereits ein schnell fließender Fluss geworden.
„Hier ist ein unterirdischer Fluss“, rief sie zurück zu den Anderen. Ihr Echo prallte von den Wänden ab.
‚Das muss der Fluss sein, wo sich die Kristalle befinden.‘, sinnierte sie.
Aufgeregt lief sie schnell immer weiter. Ihre Füße platschten schon im Wasser, weil an den Seiten kein Platz mehr war, als sie plötzlich abrupt stehenblieb und laut aufschrie. Im letzten Moment konnte sie sich an einem hervorstehenden Stein festhalten. Nur einen Schritt weiter und sie wäre, dem Wasser gleich, über die Felskante in die Tiefe gestürzt. Vor ihren Augen tat sich da unten ein wunderschönes Tal auf. Rings um eine kleine Lagune, in die das Wasser rauschte, wuchsen Bäume, Büsche und bunte Blumen.
Schon hörte sie Rufe hinter sich. Querbur, der sich sorgte, Mina, die das Schlimmste befürchtete und Hagen, der als erster angerannt kam und erschrocken abbremste. Fassungslos und fasziniert zugleich schauten sie schon kurz darauf alle gemeinsam hinab.
„Ist es das versteckte Tal?“, fragte Mina. „Haben wir es gefunden?“ Sie konnte es nicht fassen. „Ich denke schon“, antwortete Hagen.
Querbur war derweil zu Quirbana herangetreten und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick von der Seite zu. „Tut mir leid“, flüsterte Quirbana. Sie wusste, dass sie wieder zu ungestüm gewesen war und nicht auf seine Mahnungen gehört hatte.
„Was hat es mit dem versteckten Tal auf sich?“, wollte Querbur nun wissen.
Daraufhin erzählte Hagen, dass schon seit Generationen immer wieder die Rede von einem versteckten Tal gewesen sei, das jedoch noch nie jemand zu Gesicht bekommen hätte. Da dämmerte es Querbur.
„Das wird alles mit dem Stern zusammenhängen“, sagte er. „Je näher er kommt, um so mehr rumpelt es und der Spalt öffnet sich immer weiter. Und sieh mal!“ Er deutete mit dem Zauberstab nach oben. Alle vier stellten sie sich nun direkt unter den Spalt und schauten hinauf. Jetzt konnte man den Stern auch bei Tageslicht sehen. Erneut berechnete Querbur die Laufbahn mit seinem Stab und sagte dann: „Es kann sich nur noch um Stunden handeln. Und der Stern kommt genau auf uns zu. Er wird hier landen.“ Daraufhin rannte Quirbana wieder zum Höhlenfluss. „Da!“, rief sie aufgeregt. Mina war ihr gefolgt und konnte es auch sehen. Es glitzerte und blinkte unter der Wasseroberfläche. „Da sind die Kristalle!“, rief Hagen, nun auch sichtlich aufgeregt.
Quirbana und Mina wussten, was nun ihre Aufgabe war. Sie mussten die beiden Kristalle aus dem Wasser holen. Und das ging nur mit vereinten Zauberkräften.
Schnell wollten sie sich jedoch zuvor etwas stärken. Sie zogen sich ein Stück in die Höhle zurück, packten ihren Proviant aus und aßen zu ihrem Tee hastig ein paar Bissen. Wenig später liefen sie zu der Stelle zurück, wo sie die Kristalle im Wasser entdeckt hatten.
In der Zwischenzeit war der Fluss gewaltig angeschwollen. Es hatten sich Strudel gebildet, die die Kristalle wild umkreisten. Mit den Händen würden sie sie nicht greifen können, denn das Ufer war viel zu rutschig. Ihre Zauberstäbe waren ebenfalls zu kurz, um in dem wilden Wasser hilfreich sein zu können und selbst das Hineingehen ins Wasser war mittlerweile zu gefährlich geworden. Die Zeit lief ihnen davon. Sie mussten die Kristalle so schnell wie möglich aus den Fluten holen.
Ein spitzbübisches Lächeln erschien auf Quirbanas Gesicht. Schnell zog sie ihren Rucksack vom Rücken, stellte ihn neben sich und entnahm ihm ihren Zauberstab.
„Das sollte kein Problem sein!“, rief sie zu ihren Begleitern. „Das hier ist das Einmaleins der Zauberkunst und war eine Aufgabe meiner Magierprüfung. Da ich fleißig für diese Prüfung gelernt habe, brauche ich nicht einmal mein Buch der Magie aufzuschlagen.“
Unter den neugierigen Blicken von Querbur, Hagen und Mina stellte sich Quirbana an das Flussufer und hob ihren Zauberstab aus Schlangenholz. Mit klarer Stimme rief sie: „Nephilia est konzilium, quod mutari non poteste!“ Das Rubinherz am oberen Ende des Stabes begann purpurrot zu leuchten und sich zu drehen. Immer schneller wurde es und kam dann langsam wieder zum Stillstand. Auf einmal war ein leises Rascheln zu hören. Aus jeder Ritze und jedem noch so kleinem Spalt ringsum kamen Spinnen gekrochen. Als erstes sah Mina die Tiere und rief den anderen erstaunt zu: „Schaut mal, die vielen Spinnen! Das sind Nephilias! Seidenspinnen!“ Mit großen Augen schauten sie nun zu, wie die Spinnen aus ihren Spinnwarzen im Hinterteil Flüssigkeit abschossen. Diese Flüssigkeiten wurden an der Luft zu reißfesten Fäden. Eifrig webten die Spinnen ein Netz daraus. Zum Abschluss webten sie lange Fäden und ließen das fertige Netz langsam daran ins Wasser gleiten. So plötzlich, wie die hilfreichen Spinnen aufgetaucht waren, waren sie auch wieder in ihren Ritzen und Nischen verschwunden.
Voller Stolz erklärte Quirbana nun ihren Plan. „Diese Netze sind sehr stabil. Ich weiß von Fischern, die sie sogar zum Fischfang nutzen. Damit können wir die Kristalle aus dem Fluss holen. Gebannt schauten alle auf das wirbelnde Wasser. Der Sog zog das Netz etwas unter Wasser und der nächste Wirbel spülte die beiden Kristalle hinein. Vor Freude jauchzten die Vier und fielen sich kurzzeitig in die Arme. Doch diese Freude währte nicht lange. Ein nächstes Problem tat sich auf. Das Netz musste irgendwie wieder aus dem Wasser, um die Kristalle endlich bergen zu können.
„Was machen wir nun?“, fragte Mina traurig. „Wir müssen das Netz aus dem Fluss holen.“ Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob ein leichter Hauch ihre Wange streifte. Sie glaubte, in diesem Hauch die Stimme ihres geliebten Vaters zu hören. Er war immer sehr darauf bedacht gewesen, dass Mina sich alle Regeln einprägte. Ihr Mund öffnete sich nun wie von selbst und siegesgewiss sagte sie: „Manus tempus lavat vita!“
Kurz darauf kam Bewegung in das Netz im Wasser. Es wurde wie von Zauberhand Richtung Ufer gezogen. Doch alle vier trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, dass es viele kleine Krebse waren. Ihre winzigen Scheren hielten die Fäden vom Netz und zogen es an Land. Als es am Ufer lag, konnten Mina und Quirbana die Kristalle endlich herausangeln. Mina weinte vor Glück und sandte ein stilles Dankeschön an ihren Vater, wo immer er jetzt auch war. Abermals fielen die Vier sich in die Arme. Die kleinen Krebse klapperten wie zum Gruß mit ihren Scheren und verschwanden zurück ins Wasser.
Mit allen vier notwendigen Artefakten begaben sich die Vier nun zurück in die Höhle, um die Zeichnungen an den Wänden zu studieren.
„Seht Ihr diese Aussparungen?“, fragte Hagen, als sie an der Wand mit den Zeichnungen angekommen waren, und deutete auf zwei recht unscheinbare Löcher im Fels. Die Anderen schauten sich die Wand genauer an.
„Da passen ja die Kristalle rein!“, sprudelte es schon nach wenigen Sekunden aus Quirbanas Mund.
„Das werden wir gleich sehen“, sagte Querbur, schaute noch einmal kurz auf eines seiner Pergamente, nickte kurz darauf und gab ihr den ersten Kristall, mit dem sie an die eine Aushöhlung trat und ihn vorsichtig hineindrückte. Im ersten Moment schien er nicht zu passen, doch dann ertönte ein Zischen und er wurde regelrecht in die Wand hineingesogen. Es sah aus, als würde er mit dem Felsen verschmelzen.
„Na also“, murmelte er leise und gab Mina den zweiten Kristall, damit sie ihn in die andere Aussparung einsetzen konnte. Auch der wurde nach einem kurzen Augenblick und mit dem gleichen Zischen von der Wand halb umschlossen. Von beiden Kristallen war nun fast nichts mehr zu sehen.
Für einen Moment schauten sich die vier Magier ein wenig ratlos an. Keiner hatte eine Idee, was als nächstes gemacht werden musste, bis Mina plötzlich fragte: „Hört ihr das? Dieses Rauschen des Wassers? Es klingt plötzlich anders!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie zurück zum Fluss, aus dem sie eben die Kristalle geholt hatten, dicht gefolgt von Hagen, Quirbana und Querbur, denen der veränderte Klang mittlerweile auch bewusst geworden war.
„Schaut mal, da sind Stufen!“, rief Quirbana mit Erstaunen in der Stimme, als sie sich dem Wasserfall näherten, der ins versteckte Tal stürzte. Tatsächlich war er auf magische Weise zur Seite gelenkt worden und gab an der Stelle, die vorhin noch vom Wasser überflutet war, im Fels eingelassene Stufen frei, die hinunter in das Tal führten.
„Ich glaube, das bedeutet, dass wir da hinunter müssen“, meinte Querbur.
„Lasst uns gehen!“, rief Quirbana, die es schon wieder nicht erwarten konnte, und stieg, gefolgt von den Anderen, hinab in das Tal.
Unten angekommen zog es die Vier wie von selbst direkt zu der kleinen Lagune, die sie schon von oben gesehen hatten. Dort angekommen schauten sie sich um. Es sah aus, wie im Paradies. Hätte die Zeit nicht gedrängt, hätten sie diesen Moment gern viel länger genossen. Sie alle wussten jedoch, dass sie nur noch wenige Stunden hatten, bis der Stern an seinem Ziel seine zerstörerische Kraft walten lassen würde. Genau das galt es aber mit allen Mitteln zu verhindern. Daher schauten sie sich weiter gründlich um.
„Kommt hierher! Schnell!“, hörten Querbur, Quirbana und Mina auf einmal Hagen rufen. Sie waren so vertieft und konzentriert in ihrer Suche nach einem weiteren Hinweis, dass sie gar nicht bemerkt hatten, dass er schon zu den Bäumen gleich an der Lagune gelaufen war. Schnell eilten sie zu ihm und waren sehr überrascht, als sie dort plötzlich vor einer schon fast von Pflanzen zugewachsenen Eingangstür zu einem massiven, aus dicken Steinen errichteten Gebäude standen, die sich scheinbar nicht öffnen ließ.
„Seht ihr das? Da sind die gleichen Zeichen auf der Tür wie da oben in der Höhle an der Wand“, sagte Hagen, der sich den Eingang schon genauer angesehen hatte.
„Und seht hier! Zwei Aussparungen mit der Form der Artefakte!“, ergänzte Querbur, nachdem er ganz nah an die Tür herangetreten war. „Lasst uns probieren, ob sich diese Tür mit ihnen öffnen lässt!“
Querbur nahm die übrigen beiden Artefakte aus seinem Rucksack, gab den einen Hagen, und nacheinander setzen sie sie in die Öffnungen an der Tür ein. Mit dem gleichen Zischen wie bei den Kristallen oben in der Höhle wurden die Artefakte eingesogen und verbanden sich mit der Tür. Diese schob sich daraufhin mit lautem Rumpeln und Poltern langsam zur Seite und gab den Blick in das Innere des Gebäudes frei. Je weiter sie sich öffnete, umso mehr schien die Helligkeit nun von innen herauszukommen, als ob der Öffnungsmechanismus der Tür eine unsichtbare Lichtquelle in Gang gesetzt hätte.
Staunend betraten die Magier das Gebäude und fanden sich in einem Raum voller Regale mit Büchern wieder.
„Das muss er sein! Der geheime Ort, an dem die zweite Niederschrift der Informationen zum Auffangen des Sterns aufbewahrt wird!“, rief Quirbana und ihre Freunde nickten zustimmend.
„Es scheint die große magische Bibliothek zu sein“, sagte Mina, die sich die Bücher und ihre Beschriftungen in den Regalen etwas genauer ansah. „Ich hatte in meiner Ausbildung zur Magierin davon gehört, dass es sie geben soll, aber keiner hat sie je gesehen. Die Geschichte von ihrer Existenz wurde seit Jahrhunderten nur überliefert, ohne dass es Beweise für sie gab.“
„Von ihr habe ich auch gehört“, meinte Querbur. „Unsere Mutter hatte davon gesprochen. Es sei der geheime Platz, an dem alle für Magier wichtigen Informationen gesammelt seien, und die Legende, die sich darum rankt, besage, dass alle Erkenntnisse von uns Magiern auf eine unbekannte Weise hierherkämen und an diesem Ort gesammelt und aufbewahrt würden. Einen Zugang zu dieser Bibliothek erhielten nur in sehr seltenen Fällen Magier, um drohendes Unheil abzuwenden. Dass wir heute hier sein dürfen, ist also etwas ganz Besonderes. Lasst uns herausfinden, wie wir den Stern aufhalten können. Ich bin sicher, genau deshalb haben wir Zugang zu diesem bedeutsamen magischen Ort bekommen.“
Gründlich schauten sie sich nun um. Als sie sich schon fragten, wie sie unter den hunderten von Büchern das richtige finden sollten, wurde das Licht im Raum ein wenig dunkler. Nur an einer Stelle, scheinbar aus einem der Regale kommend, strahlte ein heller Lichtschweif.
Quirbana, die wie immer etwas stürmisch war, lief schnell an die Stelle, die der Lichtschweif in einem der Regale erhellte. „Das muss es sein! Diese magische Bibliothek zeigt uns das Buch, das wir brauchen!“
Vorsichtig nahm sie das Buch, von dessen Rücken das Licht reflektiert wurde, aus dem Regal. Als sie es in den Händen hielt, verblasste der Lichtschweif und es wurde wieder heller im Raum. Die Magie an diesem Ort schien es den Freunden leicht machen zu wollen, die richtigen Informationen zu finden.
Quirbana legte das Buch auf einen großen und gut beleuchteten Tisch, der mitten im Raum stand und von dem alle meinten, dass er beim Betreten der Bibliothek noch nicht da stand. Gespannt schlugen sie die erste Seite auf, auf der sie die gleichen Symbole wie oben im Fels und an der Eingangstür entdeckten. Nun waren sie sicher, dass sie das richtige Buch gefunden hatten. Langsam blätterten sie weiter und fanden alle Anweisungen, wie sie den magischen Stern aufhalten und unschädlich machen mussten. Und nicht nur das. Auch, was sie mit den Kristallen und den Artefakten machen mussten, die ja in fünfhundert Jahren wieder benötigt wurden, wenn erneut ein Schicksalsstern auf die Erde zu fallen drohte.
Schnell schrieben sie sich einige Informationen aus dem Buch ab, die sie in den nächsten Stunden brauchen würden, um ihre Mission erfolgreich erfüllen zu können. Als er noch bei seinen letzten Notizen war, fragte Querbur die Freunde, ob sie meinten, nun alles zu haben. Noch bevor jedoch jemand antworten konnte, schloss sich das Buch genau in dem Moment, als er das letzte Wort niedergeschrieben hatte, von selbst und schwebte wieder zurück an seinen Platz im Regal. Das war ihnen Bestätigung genug, dass sie nun für die Mission gerüstet waren. Mit dem Wissen, dass auch ihnen diese magische Bibliothek geholfen hatte, traten sie wenig später wieder aus dem Gebäude.
„Obfirmo bibliotheca magica!“
Mit dem magischen Spruch, den Querbur aus dem Buch abgeschrieben hatte, verschloss er die Tür wieder. Rumpelnd schob sie sich vor den Eingang. Mit einem Zittern passte sie sich genau in die Türöffnung ein und gab mit einem erneuten Zischen, das langsam immer leiser wurde, schließlich die beiden Artefakte wieder frei. Geistesgegenwärtig hielten Hagen und Querbur ihre Hände unter die beiden Stellen, an denen die Steine eingesetzt waren, denn als das Zischen ganz aufhörte, fielen sie von selbst aus der Wand.
Vorsichtig verstauten sie diese wertvollen und wichtigen Artefakte in Querburs Rucksack. Sie würden sie noch benötigen, um den Stern aufzuhalten, und mussten sie schließlich wieder dahin zurückbringen, wo sie sie gefunden hatten.
Schnell machten sich die Freunde wieder auf den Weg nach oben in die Höhle, nicht ohne noch einmal zurückzublicken. Ihnen allen war klar, dass sie dieses zauberhafte Tal wohl nie wiedersehen würden, da es sich nach erfüllter Mission wieder verschließen würde.
Wieder in der Höhle angekommen gingen sie zur Wand mit den Zeichen, die für sie mittlerweile schon ziemlich vertraut aussahen.
„Fiat aqua super gradus iterum“
Schon ahnend, dass die Kristalle gleich aus der Felswand fallen würden, hielten nun auch Mina und Quirbana ihre Hände davor, als Querbur den magischen Spruch sagte. Mit dem gleichen Zischen wie an der Tür zur Bibliothek lösten sich die Kristalle und fielen schließlich herab. Gleichzeitig veränderte der Wasserfall sein Rauschen und stürzte schließlich wieder in alter Breite ins Tal hinab.
Auch die Kristalle verstauten sie nun vorsichtig wieder im Rucksack. Dann packten die Vier schnell den Rest des Proviants aus ihren Rucksäcken und machten sich hungrig und durstig darüber her. Während sie aßen, fragte Hagen besorgt, wie sie zu der Stelle kommen sollten, die im Buch zum Platzieren der Kristalle beschrieben war. Diese sollten, sobald der Stern abgefangen worden war, zurückgegeben werden, was bedeutete, dass sie an einer markierten, sehr versteckten Stelle wieder ins Wasser gelegt werden mussten. Diese Stelle befand sich jedoch nahe des anderen Ufers des Flusses, den Querbur und Quirbana überquert hatten, als sie ins Dorf gekommen waren. Die Strömung dieses Flusses sollte die Kristalle von dort über die Jahre wieder hinein in die Höhle in seinen unterirdischen Teil genau an die Stelle transportieren, wo sie sie erst vor wenigen Stunden gefunden hatten. In hunderten von Jahren, wenn das nächste Mal ein Schicksalsstern drohte, Unglück über die Dörfer zu bringen, mussten die Kristalle genau dort wieder gefunden werden. Es war ein immer wiederkehrender Kreislauf. Doch noch war ihre eigene Mission nicht erfüllt.
Querbur und Quirbana konnten Hagen beruhigen. Sie berichteten vom Floss, dass Querbur mit einem Zauberspruch entstehen lassen hatte, und das sich noch auf ihrer Seite des Flusses befinden müsste, wo sie es zwei Tage zuvor festgebunden hatte.
Gestärkt traten die vier Magier kurze Zeit später ihren Weg in Richtung Höhlenausgang an, in dessen Nähe sie ein letztes Mal ihre Magie – diesmal alle vier gleichzeitig – einsetzen mussten. Der Spalt war mittlerweile so gewaltig groß, dass sie ihre Fackeln nicht mehr benötigten. Als sie fast angekommen waren, setzten sie ihre Rucksäcke ab und Querbur entnahm seinem sein Notizbuch und die vier Artefakte. Aus seinen Notizen prägte er sich nochmals genau ein, was sie nun als Letztes in welcher Reihenfolge zu tun hatten, um den Schicksalsstern unschädlich zu machen. Er suchte den Boden ab und fand schon kurze Zeit später die im Zauberbuch beschriebene Stelle mit den vier Markierungen.
Mit der Spitze seines Zauberstabs wies er in die Mitte und sagte: „Solum, lumen sursum!”. Der Steinboden leuchtete nun an dieser Stelle violett auf und kreisförmig waren vier unterschiedliche, leichte Vertiefungen zu erkennen.
„Hier müssen wir uns hin knien, unsere Artefakte platzieren, und jeder muss ein Artefakt mit der rechten Hand berühren. Und packt schon mal eure Zauberstäbe aus.“
So taten sie es und waren schon bald bereit für den großen Augenblick, der über Glück oder Unglück für die umliegenden Dörfer entscheiden sollte. Noch einmal sagten sie nacheinander den magischen Zauberspruch leise vor sich hin, denn sie mussten sicher sein, dass keinem von ihnen ein Fehler unterlaufen würde. Dann nahmen sie schweigend ihre Zauberstäbe in die linken Hände und richteten die Spitzen in die Mitte des Kreises, wo sie sich alle berührten. Daraufhin legten sie ihre rechten Hände auf das jeweilige Artefakt vor ihnen. Als alle bereit waren, nickte Querbur, und gleichzeitig sagten alle mit sicheren und beschwörenden Stimmen: „Aedificare atomizer. Soluite sidus in eternum.”
Für einen kurzen Moment war kein Geräusch zu hören. Dann brach ein ungeheuerliches Donnern und Grollen los und der Boden unter ihren Füssen vibrierte stark. In Richtung der großen Höhle brach direkt vor ihren Augen in einiger Entfernung unter dem offenen Felsspalt die Felswand auf. Große und kleine Steine fielen herab und verschwanden dann wie von Geisterhand, um ein riesiges erhabenes Tor, das im Buch als Sternen-Annihilator bezeichnet gewesen war, freizulegen, in dessen Mitte man ins Nichts zu sehen schien. Als es vollständig sichtbar war, verschwanden sowohl das Vibrieren als auch alle Geräusche.
Alle vier meinten, während der ganzen Zeit keinen Atemzug getan zu haben und atmeten nun fast gleichzeitig erlöst aus.
„Haben wir alles richtig gemacht? Was denkt ihr?”, fragte Mina in die Runde.
„Für mich sieht es so aus”, antwortete Hagen und die beiden anderen nickten zustimmend.
„Schon in kurzer Zeit werden wir es mit Gewissheit sagen können”, meinte daraufhin Querbur. „Wenn wir draußen und wieder in Richtung Dorf unterwegs sind, dann werden wir sehen, was mit dem Stern geschieht. Fällt er in den Zerstäuber, dann ist alles gut. Jetzt können wir nur noch hoffen.”
Die Vier packten die Artefakte und ihre Zauberstäbe wieder ein, setzen ihre Rucksäcke auf und machten sich auf das letzte Stück des Weges aus der Höhle. Draußen angekommen, begrüßte sie die Abenddämmerung. Der Schicksalsstern war jetzt sehr nah und schien sich der Erde deutlich schneller zu nähern als noch am Morgen. Schon bald würde er sein Ziel erreichen. Während sie zügig bergab zurück in Richtung Dorf liefen, fiel er das letzte Stück in rasantem Tempo herab. Um ihn herum bildete sich eine Aura, die dem Himmel eine gelbliche Färbung verlieh. Als er sich fast unmittelbar über der jetzt schon etwas entfernt liegenden Felsformation befand, blieben die Vier stehen und schauten ihm für die letzten Augenblicke zu. Mit einem summenden Geräusch fiel er in den Berg und der Himmel verdunkelte sich sofort deutlich. Aus dem Felsen drang nun ein heulendes Geräusch bis zu ihnen, das immer mehr anschwoll und schließlich mit einem enorm lauten Knall endete. Aus dem Felsen sprühte Sternenstaub in den Himmel. Die Millionen und Abermillionen winzigen Partikel erleuchteten den Himmel erneut gelb, verloren aber schon nach Sekunden ihre Farbe und lösten sich in Nichts auf.
„Wir haben es geschafft“, flüsterte Quirbana leise.
Die Felsen lagen nun wieder ruhig und so unscheinbar in der Abenddämmerung, als wäre nie etwas gewesen. Grollen, Donnern, Summen und Heulen waren nun verstummt, und Stille lag über der Lichtung und dem Weg zum Dorf. Lediglich das Zwitschern einiger Vögel war wieder zu hören.
„Lasst uns weitergehen“, meinte Hagen. Zustimmend nickten die Anderen. Jetzt, da die Anspannung gewichen war, merkten sie, wie erschöpft sie nach den letzten Stunden waren.
„Wir werden bei unserer Ankunft im Dorf sicherlich mit Fragen nach den Geräuschen überschüttet“, erinnerte Mina die Freunde daran, dass der Tag für sie noch nicht ganz zu Ende war. „Was wollen wir den Dorfbewohnern sagen? Über die Prophezeiung können und dürfen wir nicht sprechen.“
„Nun, die Leute werden natürlich gesehen haben, dass der Stern Richtung Erde gestürzt ist. Aber sie wissen ja nicht, dass es der Schicksalsstern war. Es hätte genauso gut ein Meteorit sein können. Und wenn wir ihnen erzählen, dass der Meteorit den Felsen an der unzugänglichen Seite getroffen hat und dort in tausend Teile zerborsten ist, dann erklärt das die Geräusche und jeder wird mit der Erklärung zufrieden sein“, meinte Querbur. Das fanden sie alle gut und überzeugend.
„Lass es uns genau so erklären“, sagte Hagen zu seinem Freund.
Kurze Zeit darauf trafen sie im Dorf ein, wo sich viele Bewohner vor ihren Häusern und auf dem kleinen Dorfplatz aufhielten und die vier Freunde wie erwartet direkt mit Fragen bestürmten. Hagens Erklärung sorgte schnell für Erleichterung, und alle waren froh, dass der Meteorit nicht im Dorf eingeschlagen war. Die vier Magier wünschten nun eine friedliche und ruhige Nacht, verabschiedeten sich schnell von den Bewohnern und waren froh, als sie endlich wieder bei Hagen und Mina zu Hause ankamen. Als sie später am Abend nach dem Essen noch gemütlich am Tisch saßen, legten sie den Wärmestein als erstes der vier magischen Artefakte wieder an seinem ursprünglichen Platz. Sie besprachen, was noch zu tun sei, um auch ihren Nachfahren in fünfhundert Jahren zu ermöglichen, die Aufgaben der Prophezeiung so zu lösen, wie es ihnen selbst heute gelungen war.
Im Buch über den Schicksalsstern in der magischen Bibliothek hatten sie gelesen, dass der zweite Stein wieder zu der versteinerten Schildkröte gebracht werden musste, die bereits darauf warten würde. Und auch die Kristalle mussten so im Fluss platziert werden, dass er sie zurück an den Platz spülen konnte, wo sie dereinst wieder gebraucht werden würden.
Als sie gedankenversunken über der Lösung aller noch ausstehenden Aufgaben brüteten, vibrierte plötzlich die Rufwurzel in Querburs Tasche. Erstaunt über den späten Anruf nahm der sie heraus und lauschte gespannt und unter den fragenden Blicken der Anderen der Stimme am anderen Ende.
Ein freudiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Oh wie schön!“ und „Wir müssen darüber reden, ob das geht“, gefolgt von einem: „Aber behalte es unbedingt für dich! Wenn wir das machen, dann wird es eine Überraschung!“, waren die wenigen Worte, die er in die Rufwurzel sprach. Als er aufgelegt hatte, sah er in drei fragende Augenpaare und sagte daraufhin lachend:
„Oh, ihr habt ja nur mich sprechen gehört und wisst gar nicht, worum es ging!“
„Ja genau, und nun sag endlich, was los ist!“, sprudelte es aus Quirbana heraus.
„Atana hat heute Vormittag ein Geschwisterchen bekommen. Josef und Naya sind Eltern eines gesunden Jungen geworden. Rofibald hat mir erzählt, dass die Beiden seit Wochen darüber reden, wie schade sie es finden, dass wir nicht da sind. Sie hätten uns nämlich gern als Taufpaten für den Kleinen gehabt!“
„Uns? Uns beide?“, fragte Quirbana erstaunt.
„Ja Schwesterchen, uns beide. Sie fanden es so schön, wie wir voriges Jahr Hand in Hand das verschüttete Nachbardorf zu befreien geholfen haben und hoffen, dass Atana und ihr Bruder mal ebenso gute Geschwister werden, wie wir es sind. Nun ja, und zur Taufe, die zum ersten Advent sein soll, hätten sie sich gewünscht, dass wir die Taufpaten werden.“
„Ja und?“, mischte sich Mina spontan ein. „Was gibt es da zu überlegen? Wir sind hier so gut wie fertig mit unserer Aufgabe. Wir müssen morgen noch die Kristalle im Fluss versenken, und auf eurem Rückweg könnt ihr den Stein zur Schildkröte bringen. Dann habt ihr noch genug Zeit, um in euer Dorf zurückzukehren und mit eurem Freund Rofibald alles vorzubereiten. Das würde sicher ein wunderbares Fest für euch alle!“
Quirbana sah ihren Bruder mit ihren großen, leuchtenden Augen an: „Lass uns das machen! Das wird eine tolle Überraschung und eine großartige Zeit. Das letzte Weihnachten im Dorf war wunderschön und wir könnten doch erst einmal etwas Zeit dort verbringen. Im Frühjahr könnten wir dann für eine neue Hilfsmission wieder losziehen, falls wir nicht schon vorher irgendwo hin gerufen werden.“
Noch eine Weile saßen die vier Freunde zusammen und schmiedeten gemeinsam Überraschungspläne. Sehr spät am Abend legten sie sich schlafen. Das konnten sie in dieser Nacht ganz ungestört, denn der Schicksalsstern konnte keinen Schaden mehr anrichten und auch keinen Lärm mehr machen.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück waren Hagen und Querbur noch einige Zeit damit beschäftigt, die geheimen Unterlagen so vorzubereiten und zu sortieren, dass die zukünftigen Magier in vielen Jahren den neuen Schicksalsstern, der dann zur Erde fallen würde, ebenfalls unschädlich machen konnten.
Sie schufen Hinweise auf die geheimen Orte, an denen diese Niederschriften dann zu finden sein würden und waren dabei sehr darauf bedacht, dass Dorfbrände oder ähnliches diese nie wieder vernichten können würden.
Der letzte gemeinsame Abend der vier Freunde verging sehr schnell, denn sie hatten sich noch immer viel zu erzählen. Sie lachten, scherzten, sprachen über Probleme und Sorgen und versprachen sich gegenseitig fest, dass sie sich so bald wie möglich wiedersehen würden. Da sie die Kristalle am nächsten Morgen in aller Frühe zum Fluss bringen wollten, um bei den Dorfbewohnern keine Aufmerksamkeit zu erwecken, gingen sie früh schlafen.
Vom ersten Zwitschern der Vögel wurden Querbur und Quirbana am nächsten Morgen nach einer erholsamen Nacht geweckt. Schnell machten sich die Beiden frisch und packten all ihre Habseligkeiten in ihre Rucksäcke. Köstliche Düfte nach gebrühtem Kräutertee, Spiegeleiern und frisch gebackenen Brötchen zog ihnen in die Nasen, denn Mina und Hagen waren schon fleißig in der Küche am Werkeln. Am reichhaltig gedeckten Frühstückstisch ließen die Vier es sich dann ein letztes Mal gemeinsam schmecken. Etwas Wehmut kam auf, waren sie doch in kurzer Zeit zu Freunden geworden und wussten, dass der Abschied nahte.
„Wir danken euch von Herzen“, sagte Hagen, nachdem er und Mina sich zugenickt hatten, bewegt zu den anderen Beiden. „Ohneeinander hätten wir diese Mission nicht erfüllen können. Gemeinsam haben wir alles vorbereitet, damit auch die Generationen nach uns die Menschen vor Unheil bewahren können. Wir haben den Weg dafür geebnet.“
„Den Grundstein dafür hat schon unsere Mutter gelegt“, sagte Querbur tief bewegt. „Sie hat immer wieder gesagt: ,Wenn ihr nicht mehr weiter wisst, folgt immer eurem Herzen und eurer Intuition. Sie führen euch auf den richtigen Weg.‘ Und genau das haben wir gemeinsam getan. Auch ihr müssen wir danken!“
Alle vier waren sich einig und drückten sich zur Bestärkung um den Tisch herum einander an den Händen.
Da sie ungesehen zum Fluss kommen wollten, drängte nach dem Frühstück die Zeit und sie rüsteten zum Aufbruch. Mina hatte ein großes Paket mit Proviant für Querbur und Quirbana vorbereitet und ihre Thermosflaschen mit heißem Tee befüllt. Schnell war alles in den Rucksäcken verstaut und nach einem letzten prüfenden Blick, ob sie nichts vergessen hatten, machten die Vier sich auf den Weg zum Fluss.
Dort angekommen erwartete sie das kleine Floß, noch immer am Baum festgebunden. Nun hieß es tatsächlich, Abschied zu nehmen. Die letzten Aufgaben ihrer Mission konnten nur die beiden Gnome erfüllen.
Mit Tränen in den Augen umarmten sie einander und versprachen sich nochmals, sich schon bald wiedersehen zu wollen. Querbur und Quirbana bestiegen das Floß und Hagen durchschnitt die Leine. Mit einem Winken zu den Beiden gaben Hagen und Mina dem Floß einen kleinen Schubs.
Mit ihren kleinen Stöckchen ruderten Querbur und Quirbana in Richtung des anderen Ufers. Schon fast dort angekommen, bildete sich plötzlich wie von Zauberhand eine Stromschnelle, die das Wasser reißend und schnell fließen ließ. Das war laut Zauberbuch in der geheimen Bibliothek genau die richtige Stelle. Schnell nahm Quirbana beide Kristalle aus ihrem Rucksack, beugte sich vorsichtig nach unten und ließ sie in den Fluss gleiten. Als diese das Wasser berührten, leuchteten sie in allen Regenbogenfarben und drehten sich ein paar Runden in einem Strudel, der sie schließlich in die Tiefe zog. Dann waren sie nicht mehr zu sehen.
Hagen und Mina hatten das Schauspiel vom Ufer aus beobachten können und machten sich nach einem letzten Winken Hand in Hand auf den Heimweg.
Schon bald erreichten Querbur und Quirbana sicher und wohlbehalten das andere Ufer. Ein Artefakt war noch in ihrem Besitz und dieses musste zurück zur Schildkröte gebracht werden. Gemächlich machten sie sich auf den Weg, denn nichts drängte sie mehr. Der Waldboden war von vielen bunten Blättern bedeckt, die Sonne schien noch angenehm warm durch die fast kahlen Bäume, doch der Winter war nicht mehr in allzu weiter Ferne. Zwischendurch machten sie eine Pause und genossen die Leckereien, die Mina und Hagen ihnen mitgegeben hatten. Es war früher Nachmittag, als sie schließlich ihr Ziel erreichten. Auf dem großen Felsbrocken saß die Schildkröte und gähnte herzhaft.
„Ich habe auf euch gewartet! Ihr habt den Schicksalsstern eliminiert und eure Kraft und euer Wissen zum Wohle der Menschen eingesetzt. Nur wenige Trollmagier sind dafür auserwählt. Ihr könnt stolz auf euch sein! Nun könnt ihr das Artefakt zurücklegen. Aber beeilt euch! Ich bin so müde…“ Kaum hatte sie geendet, wurde sie wieder zu Stein.
Querbur und Quirbana nahmen ihre Rucksäcke vom Rücken und entnahmen ihre Zauberstäbe und das letzte Artefakt. Ein letztes Mal strichen sie ehrfürchtig über den unscheinbaren Stein. Sicherlich würden sie ihn nicht wiedersehen. Mit den Zauberstäben in den Händen stellten sie sich nebeneinander vor den Stein und hoben die Arme. Wieder funkelte ein Wirbellicht. Diesmal hatte es die Form eines Sterns. Sie bewegten beide ihre Arme synchron von einer Seite zur anderen. Der Stern folgte der Bewegung und zerfiel dann zu Staub. Wieder rollte der große Stein zur Seite. Andächtig legte Quirbana das Artefakt in die nun freiliegende Vertiefung. Gleich darauf rollte der große Felsbrocken in seine ursprüngliche Position zurück.
Da standen die beiden Geschwister nun. Querbur nahm die Hand seiner Schwester, zog sie in seine Arme und drückte sie an seine Brust.
„Unsere Mission ist erfüllt, Schwesterchen. Du hast erlebt, was wir Magier bewirken können. Unsere Mutter hat uns das Rüstzeug und die Begabung dafür gegeben, und sie wäre sehr stolz auf uns. Viele Hilferufe werden uns noch erreichen. Ich bin froh, dich an meiner Seite zu haben.“
Mit Tränen der Freude und Dankbarkeit in den Augen gab ihm seine Schwester einen Kuss auf die Wange. Erneut schlugen sie dann ihr Lager an der Stelle auf, wo sie erst vor ein paar Tagen übernachtet hatten. Es kam ihnen vor, als sei das schon lange her. Wieder machten sie ein wärmendes Feuer, an dem sie noch ein Weilchen saßen und glücklich über die vergangenen Tage sprachen. Die Tat war vollbracht. Nun freuten sie sich schon auf ihre gemütliche Eiche nahe des Heimatdorfes, auf das Wiedersehen mit den Dorfbewohnern und ein schönes Weihnachtsfest.
– ENDE –